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ATRO – Chapter 1, section 1 (German)

Ich wurde am 30. September 1905 in Frankreich geboren. Von nicht rein französischen Eltern. Ich war automatisch französische Staatsangehörige, weil alle in Frankreich geborenen Kinder automatisch französische Staatsangehörige sind. Aber meine Mutter war Engländerin. Mein Vater war ein, ich würde sagen: mediterraner Mensch. Seine Mutter kam aus der Lombardei. Nun ist er durch seinen Vater Grieche, aber sein Vater hatte schon vor langer Zeit die französische Staatsbürgerschaft angenommen. Deshalb: griechisch, italienisch und englisch.1 [1]

Und ich wurde als Kind nicht mehr ganz junger Eltern geboren. Meine Mutter war vierzig, mein Vater fünfundvierzig oder sechsundvierzig.2 [2] Und ich weiß nicht, ob diese Einzelheit interessant ist oder nicht, aber es scheint, daß ich bei meiner Geburt neunhundert Gramm wog, nicht einmal ein Kilo. Als junger Mensch war ich stets eine Bewunderin des antiken Sparta in Griechenland, und meine Mutter pflegte mir zu erzählen: „Wenn du in Sparta geboren worden wärst, hätte man dich nach deiner Geburt in die Schlucht geschleudert.“ Die Schlucht ist eine Kluft zwischen zwei Bergen, und Säuglinge, die nicht dafür taugten, entweder Krieger oder Mütter von Kriegern zu werden, wurden nach der Geburt auf Befehl des spartanischen Magistrats einfach dort hineingeworfen.3 [3] In der Antike hat man nur die Gesunden aufgezogen. Und natürlich hätte man mich als für nichts zu gebrauchen befunden. Ich wog neunhundert Gramm, nicht einmal ein Kilo: ab in die Schlucht. Aber ich wurde in Frankreich geboren, im demokratischen Frankreich, und so gestattete man mir heranzuwachsen.

Ich war Einzelkind und mochte schon sehr früh die Unterhaltungen der Erwachsenen. Ich mochte es eigentlich nie, mit anderen Kindern zu spielen. Ich fand ihre Spiele dumm. Ich mochte Diskussionen. Ich mochte es, Fragen zu stellen, merkwürdige Fragen wie zum Beispiel diese: „Woraus besteht Feuer?“ oder solche Sachen.

Ich kann mich sehr weit zurückerinnern. Ich erinnere mich an meinen Kinderwagen. Meine Mutter erzählte mir, daß sie ihn verkaufte, als ich zwei war. Ich erinnere mich sehr gut an ihn, sehr gut. Ich erinnere mich daran, daß mir von Pfirsichen übel wurde. Übel in meinem Kinderwagen. Ich erinnere mich an das Bettzeug, weiß und blau mit Troddeln. Ich pflegte an den Troddeln zu ziehen und zu sagen: „Komm her, komm her, komm her“ und sie fortzuwerfen. Und ich erinnere mich daran, wie wir einmal in einem Park waren und ich meine Hand aus dem Kinderwagen steckte und alles naß war. Ich sagte: „Mami, was ist das?“ Ich sprach nur Englisch, weil meine Mutter Engländerin war. Sie kam aus Cornwall. Ich streckte also meine Hand raus und sagte: „Was ist das?“ Sie sagte: „Das ist der Tau.“ Na, das war ein neues Wort. Bis wir zu Hause ankamen, wiederholte ich es: „Tau, Tau, Tau, Tau.“ Ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen. Ich war etwa anderthalb. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Dinge. Und an Dinge, die mich beeindrucken, erinnere ich mich immer. Immer.

Nun, beispielsweise erinnere ich mich an Schnecken. In meiner Nachbarschaft taucht man lebende Schnecken in Essig, um sie aus ihrem Schneckenhaus zu zwingen und zu essen. Ich sagte: „Die armen Schnecken.“ Ich habe Tiere immer geliebt. Ich war immer ungehalten über jegliche Taten, die Menschen gegen sie verübten. Ich weigerte mich, Fleisch zu essen. Meine Mutter und mein Vater aßen nicht oft Fleisch. An Festtagen aßen sie Fleisch. Manchmal sonntags und an Weihnachten, Ostern, solchen Tagen eben. Ich wollte aber nicht mal an solchen Tagen Fleisch essen. Und an Weihnachten aß ich Erbsen in Butter, gekochte Erbsen in Butter. Das war mein Weihnachtsmahl. Und ein Stück mit Butter gemachter Plumpudding. Sie machte ihn nicht mit Rindertalg, weil sie wußte, daß ich ihn ansonsten nicht gegessen hätte. Ich hatte sehr starke Vorstellungen. Und nichts hätte mich davon abbringen können.

Und eine Sache, die mich in meiner Kindheit aufregte, als ich fünf war, waren Tierversuche, Zirkusse, die Pelzindustrie, alles, wo Tiere die Opfer sind. Tierversuche, niemals! Ich sagte: „Solange es so was gibt, werde ich kein Wort gegen Dinge sagen, die Menschen passieren.“ Und bis heute interessiert es mich nicht die Bohne, wenn ich von den Dingen in Afrika, in Uganda – Idi Amin Dada soll ein Monster sein, ein Tyrann, ein Was-Sie-wollen – höre. Solange sie Tierversuche in ihren Laboratorien tolerieren, werde ich Idi Amin Dada nicht kritisieren. Er ist ein Neger. Laßt ihn machen, was er will. Schließlich sind seine Opfer ebenfalls Neger. Es interessiert mich nicht die Bohne. Neger unter Negern. Laßt sie machen.

Sie pflegten mir Missionarsbücher zu geben. Das kleine Mädchen, aufgewachsen in kannibalischem Umfeld. Die Missionsschule kommt in das Dorf. Und sie ist entrüstet über den Gedanken, Menschen zu essen, Menschen der feindlichen Stämme. Und am Ende wird sie Christin. Ich pflegte den Leuten offen zu sagen: „Wenn ihr das überlegen nennt und ihr dieses kleine Mädchen bewundern müßt, warum bewundert ihr dann nicht mich? Ich habe Grundsätze.“ Natürlich habe ich das nicht wortwörtlich so gesagt. „Meine Verhaltensgrundsätze sind besser als eure. Ihr respektiert die Tiere nicht. Ich schon. Also warum bewundert ihr mich nicht, wenn ich dieses kleine Mädchen bewundern soll?“ Das war frech. Ich war so frech, wie man nur sein konnte. Ich hatte nie Angst davor, frech zu sein, außer wenn ich streng bestraft wurde, wie in der Schule.

Eine andere Sache, an die ich mich aus dem Jahre 1912 erinnere, ist mein erster Film. Meine Mutter wollte Quo Vadis sehen. Der wurde im Kino von Lyon aufgeführt. Und sie wollte mich im Haus von irgend jemandem lassen. Sie wollte allein gehen. Aber niemand wollte auf mich aufpassen, weil ich zu ungezogen war. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als mich mitzunehmen. Und ich sah Quo Vadis. Natürlich verstand ich die Intrigen im Film nicht. Aber ich sah Marmortreppen, römische Frauen in faltigen Gewändern, die mit ihren römischen Frisuren auf und ab schritten, alles schön und harmonisch. Natürlich gab es Löwen in der Arena und die gesegneten Christen. Aber ich bewunderte die Löwen. Ich liebte sie. Tolle große Katzen. Ich hatte keine Einwände dagegen, daß sie Menschen fraßen. Sie sind tolle große Katzen. Ich stellte mir vor, daß ich sie gestreichelt hätte, wenn ich in der Arena gewesen wäre. Und als wir rauskamen, erzählte ich meiner Mutter: „Wenn ich groß werde, will ich eine Römerin sein.“ Sie sagte: „Warum willst du eine Römerin sein?“ „Weil sie schön sind. Siehst du, Mami, sie sind schön. Ich mag ihre Kleider.“ Und jetzt, nach so vielen Jahrzehnten, fühlt es sich an wie der wahrgewordene Traum eines sechsjährigen Kindes, wenn ich mich in meinem Sari sehe.

Eine andere Sache, die bei diesem Film Eindruck auf mich machte, war die Wochenschau. Die Wochenschau berichtete über den Untergang der Titanic. Die Titanic sank, glaube ich, am 12. April 1912 und ich sah den Untergang in der Wochenschau. Und irgend jemand, der Sprecher, erzählte uns, daß es dort eine englische Lady gab, die nicht in ein Rettungsboot einsteigen durfte, weil sie einen Hund, einen kleinen Hund, hatte. Sie sagten: „Sie können einsteigen, aber nicht Ihr Hund.“ Sie sagte: „Ich würde lieber hierbleiben und zusammen mit meinem Hund ertrinken, als ohne ihn einzusteigen.“ Und ich behielt das. Und als ich heimkam, sagte ich zu meiner Mutter: „Schau mal, wie unlogisch, wie dumm! Die Lady wiegt vielleicht fünfzig Kilo, der Hund sagen wir zehn Kilo. Sie wollten die Lady mit ihrem Hund, sechzig Kilo, nicht haben. Und wenn ein Mensch kommt, der neunundfünfzig Kilo wiegt, werden sie ihn einsteigen lassen. Was für eine unlogische Sache! Wenn sie viele, viele Leute retten wollen, sollten sie nur die Kinder retten und die Erwachsenen im Meer sterben lassen. Das ist ihre Logik. Sie sind gegen ihre eigene Logik. Ich mag das nicht, Mami. Ich mag das nicht.“ Das war eine der Sachen, die ich sagte, als ich sechs war.

Mein erster Schultag war am ersten Oktober 1911. Ich war genau sechs. Ich konnte schon lesen, schreiben und multiplizieren, addieren, subtrahieren und durch einfache Zahlen dividieren. Das hat mir meine Mutter beigebracht. Ich wußte, daß ich in der katholischen Schule dem guten Christentum zufolge meinen Mund zu halten hatte. Und in der Konzilschule, die ich danach besuchte, mußte ich meinen Mund geschlossen halten, was die französische Revolution anging, die ich haßte. Ich mochte nie die Erklärung der Menschenrechte und die Idee der Gleichheit. Ich mochte sie nicht. Ich fand, daß etwas Schönes nicht gleichwertig etwas Häßlichem gleicher Art sein kann. Ich dachte, daß der Starke nicht dem Schwachen gleichwertig sein kann usw. Über allem gab es einige natürliche Werte.

Im Flur hing eine Tafel mit der Déclaration des droits de l’homme und eines Tages fragte ich, ob ich zum WC gehen könne (Entschuldigung). Und sie sagten: „Alles klar, geh.“ Ich ging nicht. Ich ging auf den Flur, stellte mich vor die Tafel und machte diese entsetzliche Geste.4 [4] In Frankreich gilt so was als sehr unanständig. Ich habe die Geste davor gemacht. Und die Schulleiterin erwischte mich und sagte: „Warum tust du das?“ Ich sagte: „Weil es eine einzige Lüge ist.“ „Wer hat dir das erzählt? Dein Vater?“ Ich sagte: „Nein, nein, mein Vater ist dafür. Er mag den Kram, ich aber nicht.“ „Warum magst du ihn nicht? Warum denkst du, daß es eine Lüge sei?“ Ich sagte: „Weil ein hübsches Mädchen nicht einem häßlichen Mädchen gleich ist. Ein häßliches Mädchen ist geringwertiger.“ Und ich nannte zwei Mädchen aus meiner Klasse. Ich sagte: „Soundso, ich mag Soundso. Sie ist wirklich ein nettes Mädchen, aber sie ist geringwertiger als dieses. Sie ist eine Schönheit.“ Ein blondes, blauäugiges Mädchen namens Aimée Villon. Und die Schulleiterin wußte nichts mehr zu sagen. Sie sagte: „Nun, du wirst bestraft werden.“ Ich sagte: „Bestrafen Sie mich, wenn Sie mögen. Macht mir nichts aus. Ich bin keine Anhängerin der französischen Revolution. „Wärst du lieber eine Leibeigene der Könige?“ Ich sagte: „Als Leibeigene der Könige hätte ich etwas, das ich lieben könnte. Die Majestät des Königs ist etwas, das mich blenden kann. Aber in einer Republik, eine Anhäufung von so vielen hundert Männern, die Entscheidungen treffen, gibt’s keine Majestät. Was soll man an denen lieben? Was? Sie sind keine Person. Eine Person kann ich lieben, nicht eine Versammlung von Leuten.“ Das sagte ich. Sie beließen es dabei, aber ich war auch noch recht jung.

Kurz vor dem ersten Weltkrieg setzten meine wöchentlichen Besuche im Musée Guiment ein. Es war ein Asienmuseum. Beziehungsweise war es Lyoner Zweigstelle des großen Pariser Asienmuseums. Ich spielte matschkuchenbackend im öffentlichen Garten nicht weit von dort. Es fing an zu regnen. „Mutter“, sagte ich, „jetzt regnet es. Wir haben keine Regenschirme. Wo sollen wir hin?“ Meine Mutter sagte mir: „Wir müssen uns irgendwo unterstellen gehen. Wir können uns im Museum unterstellen.“ Also gingen wir ins Museum, stellten uns dort unter.

Und meine Mutter fragte mich: „Willst du die Antike oder Tiere sehen?“ Ich sagte: „Ich würde lieber die Antike sehen, weil die Tiere ausgestopft sind. Ich möchte keine ausgestopften Tiere sehen. Ich sehe lieber lebende.“ „Alles klar.“ In der ersten Halle standen assyrische Skulpturen. Eine Mumie gab es dort. Wir beschauten ägyptische Antiquitäten, assyrische Antiquitäten und dann gingen wir nach oben. Es roch nach Sandelholz und Weihrauch. Und ich atmete es tief ein. Es gefiel mir. Und dort gab es tibetische Bilder und siamesische Bilder. Der Stil gefiel mir ebenfalls. Es war ein wirklich schöner Ort. Ich war auf einmal im Orient. Geradewegs in den Orient. Es gefiel mir. Ich schaute den indischen Raum an, den chinesischen Raum und ich besichtigte auch den japanischen Raum und so. Und ich war sehr interessiert.

Und ich frage: „Mami, kann ich hier jeden Sonntag hingehen?“ Und meine Mutter sagte: „Ja, es ist jeden Sonntag von zwei bis fünf Uhr geöffnet. Du kannst hierherkommen. Dann haben wir unsere Ruhe.“ Ich machte zuhause nämlich Krach für zehn. Und so ging ich dort beinahe zehn Jahre lang jeden Sonntag hin. Und das war der Beginn meines Interesses für Asien. Das wenige was ich damals über die Geschichte Asiens wußte, lernte ich in diesem Museum. Ich hatte ein Buch, Das Musée Guimet, das die Geschichte, Mythologie und volkstümlichen Religionen Japans und Chinas behandelte – natürlich des alten Chinas vor Mao.5 [5] Ich war sehr interessiert daran. Ich mochte es. Asien war mir nie fremd. Ich fühle mich hier nicht fremd. Nicht fremder als in Europa.