Shinto, die Nationalreligion Japans
von Dr. phil. (Lyon) Savitri Devi
3.260 Wörter
“Shinto, the National Religion of Japan,” Anath Bandhu Mitra (ed.), New Asia. An Organ of Oriental Culture and Thought (52-53 Bowbazar Street, Calcutta) , vol. 1, no. 3, July 1939, pages 18-25.
Englishe Version hier. Französische Übersetzung hier.
Unter den sehr alten Weltreligionen gibt es nur wenige, die noch eine heute lebendige Kraft darstellen, und Shinto ist eine davon. Ich nenne “sehr alte” Religionen diejenigen, deren Begründung unmöglich in der geschichtlichen Epoche festzumachen ist.
Noch schwieriger ist es, heutzutage eine solche sozusagen ohne Anfangspunkt bestehende Religion zu finden, die im Leben einer großen neuzeitlichen Industrienation eine Rolle spielt. Und Shinto spielt in Japan eine solche Rolle. Es ist daher aufschlussreich, Shinto nicht nur vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus zu untersuchen, sondern aus dem einfachen Blickwinkel eines Durchschnittsmenschen, der jeden Tag seine Zeitung liest, aber nach dem Lesen nachdenkt.
Shinto, was sich aus zwei Wörtern ableitet, die “der Pfad der Götter” bedeuten, hat einige Gemeinsamkeiten mit einem anderen Glaubenssystem, das seit Menschengedenken in Asien eine lebendige Kraft war und nach wie vor ist: dem Hinduismus.
Wie der Hinduismus hat er keinen Begründer. Er ist nicht um die Persönlichkeit einer bestimmten Inkarnation oder eines bestimmten Propheten erwachsen, wurde nicht durch eine bestimmte heilige Schrift gestiftet, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Himmel an die Erde übergeben wurde. Seine wundersamen Stammbäume führen uns weit, weit vor die Zeit zurück, die die Gelehrten Jimmu-tenno, dem ersten geschichtlichen Kaiser Japans, zuschreiben. Niemand hat die Japaner seine Bildsprache und seine Regeln gelehrt. Wie der Hinduismus hat er keine Lehrsätze. Man kann jede religiöse Anschauung haben, die einem zusagt, und ein Anhänger des Shinto sein. Es ist nichts in ihm enthalten, was die Bezeichnung “Religion” etwa im Sinne des europäischen Christentums rechtfertigen könnte. Er könnte höchstens mit den alten europäischen Volksreligionen verglichen werden – der griechischen, germanischen, keltischen usw. – die vor dem Christentum in Blüte standen.
Wie diese, wie der Hinduismus und wie jede alte Religion, ob sie vergangen ist oder überlebt hat, war Shinto urwüchsig und ist in seinen pflichtgetreuesten und mildtätigsten Erscheinungsformen immer noch eine Verehrung der Natur.
Zu den bekannten Gottheiten des Shinto zählen die Sonnengöttin Amaterasu-Omikami und ihr Bruder, der ungestüme Susanowo, der die Schönheit und den Schrecken des Sturms verkörpert, sowie das, was man in den Begrifflichkeiten der europäischen Sagenwelt den “dionysischen Drang” nennen würde, sowohl in der Natur als auch in sich selbst.
Diese Götter und Göttinnen sind Gegenstand wunderbarer Geschichten, die im ersten Teil des “Nihongi” berichtet werden, den offiziellen Chroniken Japans, die auf kaiserlichen Befehl im Jahre 720[1] herausgegeben wurden, und im “Kojiki”, das einige Jahre zuvor herausgegeben wurde. Viele ihrer Abenteuer sind kaum weniger unwirklich als die in den hinduistischen Puranas. Sie versetzen uns in eine Welt, in der die unerwartetsten Dinge möglich sind. Doch genau wie in anderen sehr alten Religionen verbirgt sich unter all diesen Fantasien eine dichterische Verbildlichung der ewigen Naturgesetze, und es gibt darüber hinaus wahrscheinlich auch eine verborgene Gelehrtheit, für die diejenigen eine Erklärung liefern können, welche die den Eingeweihten vorbehaltene Sprache zu verstehen wissen.
Eine weitere Eigenart dieser Religion, die sie mit den anderen alten, auf die wir hingewiesen haben, und mit dem Hinduismus teilt, ist ihre Geschmeidigkeit, ihre Fähigkeit, neue Bestandteile in sich aufzunehmen, ohne etwas von den ihr eigenen Merkmalen einzubüßen. Als der Buddhismus in Japan am mächtigsten war und Shinto mit ihm ein Übereinkommen finden musste, indem er die Form des Ryobu-Shinto annahm, verbanden die Priester den Hindu-Gott Varuna mit den lokalen Sumiyoshi-Göttern[2] bei Osaka. Auf diese Weise offenbarten sie einen neuen Meeresgott, der nunmehr als Suiten[3] bekannt war.
Die Beispiele ließen sich vervielfältigen, und nicht nur lokale Götter sowie Götter fremder Herkunft, sondern auch Männer und Frauen, die durch ihre großen Taten oder durch ihr wunderbares oder ergreifendes Schicksal Aufsehen erregten, haben von Zeit zu Zeit einen Platz unter den achtzig Millionen japanischer Kami gefunden. Dies ist der Fall bei der berühmten Kaiserin Jingu, die um 200 n. Chr. den ersten Heereszug gegen Korea führte und als eine der Kami der Meere gilt. Es gibt keinen Grund, warum dieser Vorgang der Vergöttlichung ein Ende finden sollte.
Shinto ist kein religiöses System, das bereits ein für allemal abgeschlossen ist. Er ist ein fließender Strom lebendiger Erleuchtung und daher empfänglich für Beiträge und auch für Weiterentwicklung, und er hat in der Tat seit den längst vergangenen Tagen schon viele Veränderungen durchgemacht. Aber schon eine kurze Darstellung seiner ihm eigenen Entwicklung wird zeigen, dass er von Anfang an immer dieselben großen Linien verfolgt hat, und wird seine wichtigste Grundeigenschaft beleuchten, nämlich vor allem anderen und mehr als alles andere die einer reinen Nationalreligion.
Diese Eigenschaft grenzt Shinto eindeutig von den weit verbreiteten Weltreligionen wie dem Christentum und dem Islam sowie vom Hinduismus ab. Die Weltreligionen sollten besser als “demokratische” Religionen bezeichnet werden, in dem Sinne, dass sie auf den Glauben gegründet sind, dass “alle Menschen das gleiche Recht haben, der Erlösung teilhaftig zu werden, die sie durch den Glauben an eine bestimmte offenbarte Wahrheit bieten.” Jedermann kann ein wahrer Christ oder ein wahrer Muslim werden, und ihrem Wesen nach sind sowohl das Christentum als auch der Islam Kräfte, die zerstörerisch auf die Volkszugehörigkeit wirken, so wie die meisten demokratischen Kräfte in der Welt auch.
Shinto ist zweifellos eine Naturreligion. Die herausragende Stellung, die Amaterasu-Omikami, die Sonnengöttin, in ihm einnimmt, reicht als Nachweis hierzu bereits aus. Doch wie bei allen sehr alten Religionen bedeutet die “Verehrung der Natur” im Shinto die Verehrung des Mutterlandes in seiner ganzen Schönheit, in diesem Falle die Verehrung Japans.
In Japan wird die Natur wirklich geliebt und verehrt, und ihr wird im Leben der Volksgemeinschaft wie des Einzelnen ein höherer Stellenwert als der Kunst zuerkannt. Die Kunst an sich wird als etwas verstanden, das ganz im Einklang mit der Umgebung der Natur zu stehen hat und nicht auf ihre Kosten die Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll. Diese Auffassung ist in großem Maße auf den Einfluss des Shinto zurückzuführen.
Ein Shinto-Schrein ist kein Prunkgebäude, er ist einfach und unaufdringlich. Seine Schönheit liegt in den dichten Bäumen, die ihn von der Ferne aus verbergen, in der Landschaft, die man jäh auf der obersten seiner Treppenstufen entdeckt, den herrlichen Hintergrund der dunkelgrünen Berge, die man von seinem eindrucksvollen Vorbau aus bewundern kann, bevor man ihn erreicht.
Jeder kennt die Verehrung der Japaner des Berges Fujiyama, den Sitz der Gottheit Sengen-Sama und der höchste Berg Japans. Zahlreich sind die Pilger, die jedes Jahr den Fuji besteigen und von seinem Gipfel aus mit größter Ehrerbietung die aufgehende Sonne begrüßen. Der Fuji ist gleichwohl der berühmteste, aber längst nicht der einzige heilige Berg: der Otake in der Provinz Shinano, der Nantai am Chuzenji-See und der Vulkan Aso in der Provinz Higo haben ebenfalls ihre eigenen Gottheiten und ihre eigenen Pilger. Fast jeder Ort, der für die Schönheit der auf- oder untergehenden Sonne bekannt ist, ist ein heiliger Ort. Solche Vorgänge sind jedoch verbreitet, und man kann eine Menge davon auch außerhalb Japans finden.
Im Shinto gibt es noch mehr als die Verehrung von Japans Naturschönheiten: Es gibt den durch allseits bekannte Erzählungen veranschaulichten Glauben, dass Japan tatsächlich göttlich ist, durch seine Erde selbst, durch sein Herrscherhaus und durch sein Volk, dass es kein Land ist wie jedes andere.
Nichts ist für einen Japaner heiliger als sein Kaiser. In der Praxis haben viele Jahrhunderte lang Shikken (Regenten) und Shogune (Minister) Japan regiert anstelle des Kaisers selbst. Doch die Person des Kaisers, des Sohnes der Amaterasu, des Inhabers der drei Herrschaftsinsignien, des Schmuckes, des Schwertes und des Spiegels, die diese Ninigi übergab, als er zum Herrn über Japan mit all seiner Vergangenheit und all seinen Überlieferungen, die ihren Ursprung im Himmel haben, und zur lebendigen Verkörperung Japans selbst eingesetzt wurde, war stets unantastbar und wurde mit religiöser Verehrung geachtet.
In den Tagen, als die Shikken der Hojo als Reichsstatthalter allmächtig waren, gab einer der Kaiser, Go-Toba, seinem Willen Ausdruck, nicht länger als reines Sinnbild sein Dasein zu fristen, sondern seine Macht auch auszuüben und vom Hof von Kyoto aus zu regieren, und geriet demzufolge in eine Auseinandersetzung mit Yoshitoki,[4] dem damaligen Regenten von Kamakura. Ein Heer unter dem Befehl von Yasutoki, dem Sohn des Regenten, wurde gegen Kyoto geschickt. Vor seinem Abrücken fragte Yasutoki seinen Vater, was er tun solle, falls der Kaiser selbst an der Spitze seines Heeres stehen würde. Die Antwort Yoshitokis[5] ist bedeutungsvoll: “Wenn nicht der Kaiser befehligt, dann kämpfe bis zum Tod. Aber wenn es Seine Majestät ist, dann werfe deine Rüstung ab und zerschneide die Sehne deines Bogens. Man darf sich einem Kaiser nicht widersetzen.”
Als Folge dieses Geistes, dieses reinen Ausdrucks der Shinto-Überlieferung auf die japanische Seele, stellt die lange Reihe der japanischen Kaiser von Jimmu-tenno bis zur Gegenwart das einzige Beispiel eines ununterbrochenen Herrscherhauses in der Welt dar, das so alt ist wie das Land, das es regiert. Der erste Artikel der japanischen Verfassung von 1889 lautet: “Das Großjapanische Kaiserreich wird beherrscht und regiert vom Kaiser aus der für immer ununterbrochenen Dynastie.”[6]
Die Geschichte des Werdeganges des Shinto ist die Geschichte einer langen Entwicklung, die mit derjenigen von Japan selbst einherging. Der Einfachheit halber kann sie in vier Abschnitte unterteilt werden:
- Urtümlicher Shinto, wie er vor dem 6. Jahrhundert war, als der Buddhismus in Japan eingeführt wurde;
- Der Ryobu-Shinto, eine Art Ausgleich zwischen den beiden Religionen, der im 8. Jahrhundert beginnt und lange Zeit andauert;
- Die Wiederbelebung des reinen Shinto im 18. Jahrhundert;
- Neuzeitlicher offizieller Shinto.
Es ist mehr als wahrscheinlich, dass im Shinto während dieser langen Jahrhunderte kein Stillstand herrschte. Der urtümliche Shinto, wie er uns bekannt ist, ist das Ergebnis unzähliger örtlicher Überlieferungen, die allmählich zusammengefügt und zu einem zusammenhängenden Ganzen geformt wurden. Wie schon gesagt, ist er im Grunde etwas ganz Schlichtes und enthält so viel Schönheit, wie er aus der täglichen Fühlungnahme eines kunstbegabten Volkstums mit den abwechselnd reizvollen oder auch furchteinflößenden Erscheinungen der Natur, mit in voller Blüte stehenden Bäumen einerseits und mit regelmäßigen Taifunen und Erdbeben andererseits, nur ziehen konnte; er enthält zudem soviele Wahrheiten, wie das frische, kraftvolle Gespür dieses Volkstums in jenen längst vergangenen Tagen nur in sich aufnehmen konnte. Er ist daher eine Nationalreligion in dem Sinne, wie eine jede urwüchsige Religion es ist.
Gottgefälligkeit und Regieren werden durch das Wort Matsurigoto ausgedrückt, was “eine feierliche Sache” bedeutet, und die Kaiser gelten von Beginn an als die höchsten Priester, obwohl es zu jener Zeit bereits mehrere Priesterklassen gab. Im großen Heiligtum von Ise, wo die drei Insignien aufbewahrt wurden,[7] wurde der göttliche Vorfahre der Kaiser verehrt, und sieben Mal im Jahr machten die kaiserlichen Gesandten hier ihre Aufwartung. Wenn der Nation große Gefahr drohte, wurden dort Bittgesuche an die Gottheit abgegeben.
Der Buddhismus, der sich bereits stark gewandelt hatte, seit die Missionare des Ashoka ihn so weite Fernen verkündet hatten, wie es ihnen möglich war, gelangte in der Mitte des 6. Jahrhunderts während der Herrschaft des Kaisers Kimmei über Korea nach Japan. Doch weite Verbreitung fand er erst einige Jahre später unter der Regierung des frommen Shotoku Taishi, des Kronprinzen und Regenten während der Herrschaft von Kaiserin Suiko. Shotoku Taishi starb im Jahre 621, und der Erfolg des Buddhismus war zu einem großen Teil ihm zu verdanken.
Hier ist nicht der Ort, um die Geschichte des Buddhismus in Japan zurückzuverfolgen. Eines ist wichtig: dass er nie in Auseinandersetzungen mit Shinto geraten ist, Shinto aber eine Übereinkunft mit ihm schließen musste und das auch tat.
Vom 8. bis zum 18. Jahrhundert blühte in Japan das, was als Ryobu-Shinto oder doppelgestaltiger Shinto bekannt ist; diese Lehre, die dann selbst wiederum während dieser langen Zeit eine Weiterentwicklung durchmachte, ist das Ergebnis dieser Übereinkunft.
Ryobu-Shinto konnte einfach deshalb eine so lange Lebensdauer haben, weil es in den Anschauungen der beiden Religionen, die er vereinte, keinen Gegensatz geben konnte. Ryobu-Shinto ist reiner Shinto, zuzüglich hinduistischer Metaphysik, die über den Buddhismus ins Land kam. Daraus konnte sich keine Schwierigkeit für die Lehre ergeben, da es zwischen hinduistischer Metaphysik (oder jedweder Art von Metaphysik) und dem Fehlen jeglicher Metaphysik keinen Widerspruch gibt.
Der Ryobu-Shinto blühte, bis im 18. Jahrhundert eine andersgeartete Gegenbewegung aufkam. Diese Gegenbewegung ist keine abgesonderte Erscheinung. Sie steht in enger Verbindung mit der gänzlich neuen Stimmung, die Japan während der Herrschaft der letzten Tokugawa-Shogune durchdrang. Viele haben die Wissbegier an den neuzeitlichen Wissenschaften betont, die zu dieser Zeit in Japan aufkam und die künftige Industrialisierung des Landes und seine Ausdehnung während der Meiji-Zeit vorbereitete. Aber neben dieser Neugier für ausländische technische Verfahren gab es, so seltsam dies auch erscheinen mag, eine Sehnsucht nach den ältesten Überlieferungen japanischer Staatskunst, japanischen Schrifttums und japanischer Religion und Lebensart.
Die Wiedergeburt des reinen Shinto geht einher mit der Bewegung für die Wiederherstellung der Handlungsmacht des Kaisers und mit der Dichterbewegung der Wagakusha für einen Schreibstil ohne chinesische Einflüsse. Zweifellos waren diese beiden Bewegungen ebenso stark von der Wiedergeburt des reinen Shinto beeinflusst.
Diese Gegenbewegung, die darauf abzielte, den chinesischen Einfluss sowohl in der Religion als auch im Leben zu beseitigen, brachte die Menschen zurück zur Einfachheit und den Tugenden der alten Zeit, und sie hatte mehrere große Unterstützer, von denen Motoori Norinaga (1730–1801) der berühmteste ist.
Der wiederbelebte Shinto und der neuzeitliche Shinto, der die gegenwärtige Stufe seiner Entwicklung darstellt, gründet sich auf eine bewusste Weltsicht, auf etwas, das man als einen Lehrsatz bezeichnen könnte, und dieser Lehrsatz wurde im 19. Jahrhundert gut zusammengefasst durch Hirata Atsutane (1776-1843), einem Unterstützer der Wagakusha-Bewegung und Schüler des Motoori Norinaga, der wie sein Meister nicht nur das göttliche Recht der Kaiser geltend machte, tatsächlich zu regieren, sondern auch die göttliche Herkunft des japanischen Volkes und seine Überlegenheit an Tapferkeit und Klugheit gegenüber allen Völkern der Welt.
Wie zuvor werden Menschen, die große Taten vollbracht haben, als Götter verehrt. Doch in den Augen eines Japaners gibt es keine größere Tat, als auf dem Schlachtfeld für seinen Kaiser und sein Land zu sterben. Inmitten des geschäftigen, lauten, europäisierten neuzeitlichen Tokios befindet sich ein Park, in dem ein kleiner Schrein zu sehen ist. Er ist denen geweiht, die während der letzten Kriege für Japan gefallen sind und die zu Kami wurden.[8] Einmal im Jahr kommt mit großer Feierlichkeit der Kaiser selbst, der lebendige Gott Japans, der Sohn der aufgehenden Sonne, hierher und huldigt ihnen.
Die Treue zum Thron, eine große Shinto-Tugend, hat seit der “Modernisierung” des Landes keineswegs nachgelassen. Sie ist die Nationaltugend Japans und kommt hier zum Ausdruck wie nirgendwo sonst. Im Jahre 1912, als Seine Majestät Matsuhito (Meiji-tenno) starb, schieden der im Russisch-Japanischen Krieg berühmt gewordene General Maresuke Nogi und seine Frau still und leise aus dem Leben, in dem sie den überlieferten Brauch des Seppuku durchführten. Und 1926, nach dem Tod des Kaisers Yoshihito (Taisho), handelte der Baron Ikeda[9] auf dieselbe Weise. Sie hielten auf ihre eigene Weise und aus freien Stücken den alte Brauch des Junshi aufrecht, nach dem beim Tode des Meisters auch seine treuen Diener zu sterben hatten, um ihm über den Tod hinaus zu dienen.
Man kann sagen, dass der moderne Shinto mit einer wesenhaft politischen und moralischen Haltung auf Nationalismus und ein nationales Brauchtum ausgerichtet ist. Er ist nie etwas anderes gewesen. Seine Weiterentwicklung ist jedoch eine Tatsache. Seine Weiterentwicklung liegt in einer stärkeren Bewusstheit seines Wertes als nationale Kraft, in einer immer stärkeren Betonung seiner nationalen Bedeutung. Als einfache, urwüchsige Religion hatte er keinen metaphysischen Hintergrund. Und den hat er bis heute nicht. Aber seine Weltsicht wurde im Laufe der Jahrhunderte immer stärker zu einer nationalen Weltsicht, einer Art von Rassismus, der auf den Glauben an die Überlegenheit des japanischen Volkes und die Heiligkeit des japanischen Kaisers gegründet ist.
Viele haben gesagt, er habe keinen moralischen Lehrinhalt. Dies ist nicht ganz richtig. Im alten Shinto war, wie in allen sehr alten Religionen, eine “Sünde” vor allem ein Fehler in der Glaubensausübung; aber mit der Zeit nahm ein nationaler Moralkodex mit Gefolgstreue, Selbstaufopferung für das Land, Tapferkeit usw. als seinen Haupttugenden seinen Platz neben der völkischen Weltsicht des Shinto ein. Diesen moralischen Leitbegriff hat bereits jemand in knappen Worten dargelegt: Er besteht darin, ein echter Japaner zu sein.
Es ist schön zu sehen, dass Japan trotz seiner hochgradigen Mechanisierung in den letzten siebzig Jahren seine Sitten und Gebräuche beibehalten hat. Man kann nur beeindruckt sein, wenn man die Beschreibung der Beisetzung des verstorbenen Kaisers Yoshihito (Taisho) vor gerade einmal zehn Jahren liest, mit dem ganzen altertümlichen Shinto-Zeremoniell, mit dem Begräbniswagen, der von fünf wegen ihrer besonderen Färbung ausgewählten Ochsen gezogen und so gebaut wurde, dass seine sich drehenden Räder sieben verschiedene traurige Klänge von sich geben.
Man kann nicht umhin, das Überleben der alten Shinto-Bräuche zu bewundern, zu Ehren derselben Götter und in denselben schlichten Holztempeln, die sich zwischen dichten, schattigen Zederbäumen und weißen Blumen verbergen.[10]
Doch etwas ist noch viel bemerkenswerter, und zwar der offizielle Segen für die alten Bräuche und die lebendige Gegenwart des alten Geistes nicht nur unter den Massen, sondern auch unter der “Intelligenz” Japans, die mit der neuzeitlichen Welt in Verbindung steht.
Shinto konnte trotz des außerordentlichen Ansehens des Buddhismus überleben, indem er sich eine Zeitlang mit dem indischen Glauben vermengte, seine Götterwelt übernahm und umformte und allmählich seinen Geist änderte; denn wer könnte behaupten, dass ein zeitgenössischer japanischer Buddhist, selbst wenn er die buddhistischen und shintoistischen Tempel nicht aufsucht, nicht wie jeder andere auch von shintoistischen Anschauungen durchdrungen ist?
Er hat eine lange Überlieferung von Priestertum, von Volksglauben und von undenkbar altem Brauchtum hinter sich. Und das ist notwendig, um eine Religion zu bilden. Seine völkische Weltsicht, wie rein politisch sie auch erscheinen mag, ist mit all diesen Dingen verwoben. Er ist langsam und unmerklich aus ihnen entsprossen. Er wurde sich sodann als Kraft der Gegenwehr, als Triebkraft nationaler Selbstbehauptung bewusst und hat sie als sichtbare und lebendige Sinnbilder seines Daseins anerkannt, ja als die materiellen Gegenstände, “denen er innewohnt”, ähnlich einer göttlichen Wesenheit. Sie sind dadurch weder erschaffen noch neu erschaffen worden.
Auf der Grundlage einer bestimmten engen Definition des Wortes scheint dies die Stärke des Shinto zu sein; man mag ihm die Bezeichnung “Religion” absprechen, vor allem angesichts des neuzeitlichen Shintos, und ihn eine bloße politische Weltsicht nennen. Er ist jedenfalls eine sehr schlichte Weltsicht, die alle Vorteile einer Volksreligion hat und vielleicht noch einige weitere.
Denn am Ende ist die Liebe die große Kraft unter den Menschen, nicht die Metaphysik, und einem auf Gebräuche ausgerichteten Nationalismus als Verehrung des Landesherren und als Verehrung der Natur, der wegen der Schönheit eines bestimmten Landes gehuldigt wird, liegt das Außerachtlassen von Liebe fern. Wie sonst hätten heutzutage in Erfüllung eines altertümlichen Brauches übermenschlicher Gefolgstreue Menschen bereitwillig in den Tod gehen können, nur weil der gegenwärtiger Kaiser ihres ununterbrochenen Herrscherhauses der Sonne gestorben war?
Anmerkungen
[1]Savitri Devi schreibt im Original irrtümlich “729”.
[2]Savitri Devi schreibt im Original irrtümlich “the local deity of Sumiyoshi”; die Sumiyoshi sind jedoch eine Gruppe von drei lokalen Göttern.
[3]Savitri Devi schreibt im Original irrtümlich “Suiten-gu” (Suiten-Schrein) statt “Suiten”.
[4]Savitri Devi schreibt im Original irrtümlich Yasutoki statt Yoshitoki.
[5]Savitri Devi schreibt im Original irrtümlich Yasutoki statt Yoshitoki.
[6] “Verfassungsurkunde für das Großjapanische Kaiserreich vom 11. Februar 1889.” In: Junko Ando: “Die Entstehung der Meiji-Verfassung.” Iudicium-Verlag, München 2000, Seite 241. Deutsche Übersetzung durch die Autorin.
[7] Nur eines der drei Insignien, der heilige Spiegel, wird im Ito-Schrein aufbewahrt; das heilige Schwert befindet sich im Atsuta-Schrein in Nagoya, der heilige Schmuck im Kashiko-dokoro-Schrein auf dem Gelände des Kaiserpalastes in Tokio.
[8] Der 1869 eingerichtete Yasukuni-Schrein.
[9] Savitri Devi schreibt irrtümlich “Takeda”. Baron Masasuke Ikeda (1883–1926).
[10] Im Original: “hidden amongst thick shady trees and white Cryptomeria flowers” (die sich zwischen dichten, schattigen Bäumen und weißen Zederblumen verbergen). Das Wort “Cryptomeria” ist wohl an der falschen Stelle abgedruckt: Cryptomeria japonica ist die japanische Zeder, die in der Umgebung von Schreinen gepflanzt wird. Mit den “weißen Blumen” muss der Sakaki-Baum gemeint sein (Cleyera japonica).
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